Die Städtebauliche Entwicklung der Stadt Moers im 20. Jahrhundert -1. Teil-

Thorsten Kamp

„Moers darf als ein Musterfall dafür gelten, wie durch Stadtsanierung binnen zehn Jahren über Jahrhunderte gewachsene Strukturen vollständig zerstört wurden.“

(Kunsthistorischer Wanderführer - Rheinland, 1979)

 

„Geschichte ist in Moers lebendig. Die Stadtkernsanierung und die Denkmalpflege haben hierzu in den zurückliegenden Jahrzehnten einen positiven Beitrag geleistet.“

(Stadt Moers, 1989)

Der Vortrag „Die städtebauliche Entwicklung von Moers im 20. Jahrhundert“, zu dem der Grafschafter Museums- und Geschichtsverein am 21. 10. 2009 in die VHS am Kastellplatz einlud, sollte aufzeigen, wie sprunghaft und umfassend sich die Stadt Moers im vergangenen Jahrhundert verändert hat und welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und wechselnden Architekturleitbilder dieser Entwicklung zu Grunde liegen. In der Rückschau zeigten sich auch die Widersprüchlichkeiten der Stadtentwicklung: zum einen bei den jeweils gültigen stadtplanerischen Idealvorstellungen und zum anderen bei den gebauten Ergebnissen sowie deren Beurteilung, wie die oben angeführten Zitate verdeutlichen.

Ziel der Abendveranstaltung war es, gut 90 Jahre Moerser Stadtentwicklungspolitik möglichst objektiv zu schildern und in den Gesamtkontext der Städtebaugeschichte des 20. Jahrhunderts einzuordnen. Dazu wurden Zeitabschnitte gebildet, die sich durch unterschiedliche politische, ökonomische und stadtplanerische Rahmensetzungen deutlich von einander abgrenzen lassen. So sind den Ereignissen vor Ort in Moers die jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen vorangestellt worden. Dem Aufbau des Vortrages folgt dieser Aufsatz, der allerdings naturgemäß mit einem Bruchteil der vorhandenen Abbildungen auskommen muss.

Die Zeit von 1900 bis 1914 - Industrialisierung und Reformbewegung

Nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 und der nachfolgenden Reichsgründung, die eine kurze, auf Reparationszahlungen Frankreichs basierende Scheinkonjunktur auslöste, trat die deutsche Wirtschaft am Ende des 19. Jahrhunderts in eine zweite industrielle Gründungsphase ein, in deren Verlauf das Deutsche Reich zu den führenden Industrienationen aufrückte. Gemessen an den beiden europäischen Rivalen Frankreich und England wurde Deutschland von der Industrialisierung zwar erst relativ spät erfasst, dafür aber mit einer ungeahnten Dynamik, die verbunden war mit einem tief greifenden Wandel in Gesellschaft, Politik und Kultur. Kennzeichnend für den Industrialisierungsprozess waren ein rapides Städtewachstum, wachsende Verkehrsprobleme und die Urbanisierung zuvor landwirtschaftlich geprägter Regionen. Alte Bürger- und Residenzstädte verloren ihren ehemals beschaulichen Charakter und wandelten sich zu lauten, schmutzigen Industrie-Metropolen. Zahlreiche Berg- und Hüttenwerke entstanden im ländlichen Raum und ließen unbedeutende Dörfer und Kleinstädte zu Industrieagglomerationen zusammenwachsen.

Dem ständig zunehmenden Verkehr und den akuten hygienischen Problemen in den übervölkerten Städten versuchte man in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch den forcierten Ausbau der technischen Infrastruktur (zentrale Wasserversorgung, Kanalisation, Schlachthöfe, Straßenbahnen etc.) zu begegnen. Um dem durch das wachsende Heer von Industriearbeitern hervorgerufenen Bevölkerungsdruck zu entsprechen, musste zudem der Neubau von Wohnungen vorangetrieben werden. Die kommunalen Instrumente dazu waren Fluchtlinien- und Bebauungspläne, die in erster Linie die Straßenfluchten festlegten. An den Rändern der alten Stadtkerne entstanden so schematische, rasterförmige Stadterweiterungen, meist als Blockrandbebauung mit Hinterhöfen. Außerhalb der vorhandenen Städte fand der Bau von Arbeiterunterkünften in Form von Arbeiterkolonien im direkten Bezug zum jeweiligen Betrieb (Zeche, Hüttenwerk, Textilfabrik etc.) statt, zu Anfang in Gestalt enger „Feldlager“ aus monoton aneinander gereihten, gleichförmigen Häusern.

Am Anfang des 20. Jahrhunderts zeigte sich, dass den sozialen und hygienischen Problemen wie den oft skandalösen Zustände in den großstädtischen „Mietskasernen“ mit ihrer Licht- und Luft-Armut mit bisherigen städtebaulichen Lösungen langfristig nicht beizukommen war. Die „Wohnungsfrage“, so das Reizwort der damaligen Zeit, hatte sich in Deutschland wie in den anderen europäischen Industriestaaten so zugespitzt, dass überall nach Auswegen gesucht wurde. In der Kritik standen neben den sozialen auch die kulturellen Folgeerscheinungen der sprunghaften Industrialisierung. Dazu zählten die unsinnlichen Rasterplanungen der Stadterweiterungsgebiete und Arbeiterkolonien, die überladenen Formen des Gründerzeit-Historismus, der sich wahllos aus dem Fundus der Architekturgeschichte bediente, zudem die fortschreitende Verstädterung und Landschaftszerstörung, die Verunstaltung historischer Städte, die Entwurzelung ganzer Bevölkerungsschichten, die Abkehr von handwerklichen Produktionsweisen hin zur industriellen Massenfertigung - kurzum, die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts galt insgesamt als eine Phase des kulturellen Verfalls.

Die Jahrhundertwende war tatsächlich ein Wendepunkt in der Geschichte der Bau- und Wohnkultur. Es setzte zu dieser Zeit eine intensive Reformdebatte ein, die von vielen Kräften getragen wurde: von Architekten, Boden- und Wohnungsreformern, Medizinern, Bildungsbürgern, aufgeklärten Unternehmern, Sozialdemokraten, Künstlern etc.. Aus dieser Reformbewegung bildeten sich in der Folge verschiedene Initiativen, die im Einzelnen unterschiedliche Ziele verfolgten, die aber alle die Ablehnung der Auswüchse des Industriezeitalters einte. Dazu gehörten in Deutschland vor allem (mit Jahr der Gründung), die Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft (1902), der Bund Heimatschutz (1904), der Rheinische Verein für Denkmalpflege und Heimatschutz (1907) und der Deutsche Werkbund (1907), die alle eine Verbesserung der gebauten Umwelt anstrebten. Ziel war die Schaffung eines Wohnumfeldes von hoher stadtplanerischer und ästhetischer Qualität, das zudem eine gesunde, naturnahe Lebensweise ermöglichte. Besondere Aufmerksamkeit erlangte in diesem Zusammenhang Ebenezer Howard, der in England, dem Mutterland der Industrialisierung, die Vision einer idealen Reform-Stadt entwickelte. Seine programmatische Schrift „Gardencities of Tomorrow“ von 1898 beschreibt die Idee einer autonomen Gartenstadt, die eine Synthese der Vorteile von Stadt und Land darstellt, wirtschaftlich unabhängig sein soll und gesunden, bezahlbaren Wohnraum für alle Schichten bereithält. Dazu sollte in Abkehr von der Bodenspekulation die Gartenstadt als genossenschaftliches Modell konzipiert werden.

Die erste englische Gartenstadt wurde 1903 in Letchworth gegründet und bereits 1908 entstand die erste Gartenstadt Deutschlands in Dresden-Hellerau, wo Howards Gartenstadtideen, auch seine sozialreformerischen Ansätze, am konsequentesten durchgesetzt wurden. Die städtebauliche Gestalt der Gartenstädte, zu denen Howard in seinem Buch selbst keine Vorschläge, sondern nur eine schematische Prinzipskizze lieferte, orientierte sich an den gewachsenen Strukturen von Dörfern und Kleinstädten, die sich durch Vielgestaltigkeit, individuelle Raumbildungen und der Topografie angepasste, geschwungene Straßenverläufe auszeichneten. Rein genossenschaftlich organisierte, von der Großstadt unabhängige Gartenstädte nach Howards Idealvorstellungen sind in Deutschland nicht entstanden, dafür aber städtebaulich bedeutende Raumschöpfungen, wie die Essener Gartenvorstadt Margarethenhöhe von Prof. Georg Metzendorf (Bauzeit 1910-17) oder die Siedlung Staaken (1914-17) bei Berlin von Prof. Paul Schmitthenner. Die Siedlungen der Architekten Metzendorf und Schmitthenner - die uns in Moers später wieder begegnen werden - besitzen bis heute einen ausgesprochen eigenständigen, kleinstädtischen Charakter, der durch besonders gestaltete Entrees (Stadttore, Arkaden) noch gesteigert wird. Ihre Architektur ist vorindustriell-kleinstädtisch und greift besonders bei Schmitthenner Bautraditionen der Region auf. So nahm er als historisches Vorbild für die Siedlung Staaken das Holländische Viertel im nahe gelegenen Potsdam.

Da die einfachen Behausungen der ersten, kasernenartigen Arbeiterkolonien nicht mehr ausreichten, um den gestiegenen Anforderungen der modernen Industriegesellschaft zu entsprechen, bedienten sich auch Industrieunternehmen der Reformideen und schufen Werkssiedlungen, deren Konzeption sich formal an das Gartenstadtprinzip anlehnte. Die Gestaltung des einzelnen Hauses trat zunehmend zurück zugunsten eines durchkomponierten Gesamtkunstwerks aus Häusergruppen, Plätzen und Grünanlagen. Ställe und große Nutzgärten ermöglichten zudem die Selbstversorgung der Bewohner und verstärkten den ländlichen Charakter der Siedlungen. Der Werkswohnungsbau entwickelte sich immer mehr zu einem Aushängeschild der jeweiligen Betriebe. Unternehmer wie Alfred Krupp, der persönlich mehrere Male zu Studienzwecken nach England gereist war und sich dort zu Arbeiterhäusern im Landhausstil inspirieren ließ, dachten aber natürlich auch an ihre eigenen Vorteile: Die Arbeiterschaft sollte durch attraktivere Wohnangebote an „ihr“ Werk gebunden werden, denn der Bedarf gerade an qualifizierten Arbeitskräften war enorm gestiegen. Ebenso schwang bei der Konzeption der Siedlungen die erhoffte „Befriedung“ der Arbeiterschaft mit. Angenehme Wohnverhältnisse und verbesserte Lebensbedingungen sollten die zum Teil sehr schweren körperlichen Belastungen im Werk kompensieren und zu verbesserter Gesundheit, sozialem Frieden und Kontinuität am Arbeitsplatz beitragen.

Die Formensprache der gartenstädtischen Siedlungen ist auch ein Resultat der um 1890 einsetzenden Bedeutungszunahme von baulich-ästhetischen Prinzipien im Siedlungs- und Städtebau, der bis dahin vorrangig hygienisch-pragmatischen Lösungen folgte. Als Begründer der daraus entstandenen Disziplin der „Stadtbaukunst“ gilt der österreichische Architekt und Maler Camillo Sitte, dessen 1889 veröffentlichtes Buch „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ den Grundstein dazu legte. Fortan wurden historische, insbesondere süddeutsche und italienische Stadtbilder analysiert und die Prinzipien eines romantisch-malerischen Städtebaus in Lehrbücher übertragen. Ihre Blüte erreichte die Stadtbaukunst nach 1900, was sich in einer ganzen Reihe von hervorragenden Veröffentlichungen und Veranstaltungen niederschlug.

Parallel dazu entwickelte sich auch im Bereich der Architektur eine neue Ästhetik, die sich vom Eklektizismus der Gründerzeit und dem verspielten Dekor des Jugendstils deutlich abwandte. Aus der Rückbesinnung auf die Schlichtheit der klassizistischen Bauten „Um 1800“ (so auch der Titel eines einflussreichen Buches von 1908) und in Anlehnung an die klaren Entwürfe dieser Zeit, entstand als neue Stilrichtung die „Reformarchitektur“. Die geometrischen Formen dieses Baustils findet man in Moers an Einzelgebäuden auf der Steinstraße und vor allem auf der Südseite der Tersteegenstraße, wo ein ganzes Gebäudeensemble aus gutbürgerlichen Wohnhäusern in dieser Stilart entstand.

Die Entwicklung der Reformarchitektur ist eng mit dem 1907 gegründeten „Deutschen Werkbund“ verbunden, einem Zusammenschluss führender Architekten, Kunsthandwerker und Industrieller mit dem Ziel, für die immer zahlreicheren Errungenschaften des industriellen Fortschritts anspruchsvolle ästhetische Normen zu entwickeln und somit die allgemeine Lebens- und Gestaltqualität zu heben. In der Architektur forderte der Deutsche Werkbund eine Material-, Konstruktions- und Funktionsgerechtheit. Anstelle des stil-nachahmenden Eklektizismus sollte eine künstlerische, sachliche Gestaltung treten. Dies waren Forderungen, wie sie auch eine weitere wichtige Reformbewegung der Heimatschutz, vertrat. Tatsächlich gab es enge - auch personelle - Verbindungen zwischen beiden Verbänden wie beim Wettbewerb zum Moerser Neumarkt 1914 noch zu sehen sein wird.

Der „Bund Heimatschutz“ versuchte das landschaftliche und baukulturelle Nationalerbe vor dem Veränderungsdruck der industriellen Moderne zu bewahren. Zu den wichtigsten Zielen der Heimatschutzbewegung gehörte die Wiederbelebung regionaler Bauformen. Dank zahlreicher Publikationen und Veranstaltungen hatten sich Denkmalpflege, Heimat- und Naturschutz nach 1900 zu einer breiten Bewegung entfaltet, deren Einfluss vor allem auf das Bildungsbürgertum erheblich war (vgl. Gründung des Vereins für Heimatkunde in Moers 1904). Die Stimme der Heimatschützer fand auch auf Regierungsebene Gehör: Die verschiedenen Landschafts- und Denkmalschutzgesetze sind ohne die Initiativen dieser Reformbewegung überhaupt nicht denkbar. So wurden 1906 in Preußen die „Staatliche Stelle für Naturdenkmalpflege“ ins Leben gerufen, 1902 das „Gesetz gegen die Verunstaltung landschaftlich hervorragender Gegenden“ und 1907 das „Gesetz gegen die Verunstaltung von Ortschafts- und Landschaftsbilder“ erlassen. Mit diesen Gesetzen hatte der preußische Staat einen Maßnahmenkatalog beschlossen, der dass Aufstellen von Reklametafeln ebenso betraf wie die Gestaltung von Neubauten. Den Gemeinden wurde es ermöglicht „besondere Ortsstatute für bestimmte Straßen und Plätze von geschichtlicher oder künstlerischer Bedeutung zu erlassen“, vergleichbar mit heutigen Gestaltungs- oder Denkmalbereichssatzungen.

Ein weiterer Erfolg der Heimatschutzbewegung war die Einrichtung zahlreicher Bauberatungsstellen. Diese waren an die bestehende Bauverwaltung, wie städtische Hochbauämter oder Baupolizeibehörden, angegliederte Dienststellen mit der Aufgabe „darauf hinzuwirken, daß eine der guten alten handwerklichen Überlieferung gleichwertige allgemeine Baugepflogenheiten wieder erlangt [würde].“ Neubauten sollten sich „wie die Bauten aus der Zeit vor hundert Jahren, gut in den Rahmen einer bescheidenen, sachlichen Wohlanständigkeit einfügen“, ihre Bauformen durften nicht mehr „als minderwertige Vorstadtarchitektur oder durch Altertümelei und dergl. anmaßend und unecht wirken.“ Die Bauberatungsstellen beschäftigten meist ehrenamtliche Architekten, die die eingereichten Bauanträge prüften und ggf. überarbeiteten. Auch in Moers wurde eine Bauberatungsstelle eingerichtet und zwar 1912 im Kreisbauamt direkt unter der Leitung des Kreisbaurats mit dem Auftrag, die „Verschandelung des Straßen- und Ortsbildes“ im Kreis Moers abzuwehren.

Um 1910 waren also Heimatschutz, Stadtbaukunst und die Architekturvorbilder „Um 1800“ die unbestrittenen Leitlinien eines neuen Stils. Dieser prägte in den nächsten Jahren den Bau von öffentlichen Einrichtungen ebenso wie die Gestaltung privater Wohnhäuser und ganzer Siedlungen. Besonders im Ruhrgebiet entstand von 1900 bis zur Mitte der 1920er Jahre eine Vielzahl von Arbeitersiedlungen, die sich in formaler Anlehnung an die Maßgaben von Stadtbaukunst, Reformarchitektur, Heimatschutz- und Gartenstadtbewegung durch „gemütvolle“, traditionalistische Straßenbilder und überschaubare, durchgrünte Wohnbereiche auszeichneten. Bedeutende Beispiele hierfür sind im Altkreis Moers die Kruppsche Margarethensiedlung (ab 1903) in Rheinhausen, die Siedlung Meerbeck (ab 1904) und die „Alt-Siedlung“ (ab 1907) des Bergwerks Friedrich-Heinrich in Kamp-Lintfort.

In einer Zeit massiver gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Umwälzungen waren die verschiedenen Reformbewegungen der Jahrhundertwende auch Reaktion auf das Schwinden sicher geglaubter Gewissheiten und Ausdruck einer Sehnsucht nach Geborgenheit - eine Geborgenheit, wie sie das idyllische Moerser Stadtbild um 1900 noch ausstrahlte.

Das Stadtbild von Moers um 1900

Moers vermittelte am Übergang zum 20. Jahrhundert das Bild einer beschaulichen niederrheinischen Kleinstadt, in dem die Zeit fast stehen geblieben zu sein schien. Die Bebauung der Altstadt stammte weitgehend aus dem 17. Jahrhundert, als Moers nach dem großen Stadtbrand von 1605 wieder aufgebaut werden musste. Der überwiegende Gebäudebestand im Stadtkern war zweigeschossig bzw. dreigeschossig auf der Stein- und Neustraße. Unterschiedliche Trauf- und Firsthöhen ergaben eine malerische Dachlandschaft. Die Fassaden der Häuser waren überwiegend schlicht verputzt, zum Teil auch nachträglich im 18. Jahrhundert mit klassizistischen Schmuckelementen versehen worden, so z.B. das Peschkenhaus oder Haus Rösgen.

Die verschiedenen Phasen der Stadtentwicklung - jeder Eingriff in die Stadtstruktur - hatte zwar deutliche Spuren hinterlassen, allerdings ohne diejenigen der vorhergegangenen Zeit völlig zu zerstören. So war ein harmonisches Gesamtbild entstanden, an dem die Entwicklungsstufen der Stadt wie Jahresringe abgelesen werden konnten: Die mittelalterliche Form von Moers, durch die bogenförmige Altstadt und die rechteckige Neustadt gekennzeichnet, ließ sich ebenso deutlich nachzeichnen, wie der Verlauf der Wallanlagen, die während der oranischen Herrschaft (1601-1702) durch die Niederländer angelegt und durch die Preußen ab 1763 wieder geschliffen worden waren.

Als auf Befehl Friedrich des Großen damit begonnen wurde, die Bollwerke der Stadt abzutragen, blieb die Außenumwallung der ehemaligen Festung als Deichschutzgürtel gegen drohende Rheinüberschwemmungen erhalten. Durch die Verfüllung der Wasserflächen mit den Erdmassen der abgetragenen Wälle war erheblich Bauland geschaffen worden. Das eingeebnete Land der Alt- und Neustadtwälle wurde parzelliert und öffentlich versteigert. Der historische Grundriss des Stadtkerns aus der oranischen Zeit änderte sich jedoch nur unwesentlich, da das neu gewonnene Gelände in der Regel nicht zum Neubau von Häusern, sondern zur Anlage von Gärten genutzt wurde. So gab es zwischen dem Stadtkern mit seiner annähernd fünfeckigen Form und dem umgebenen Stadtgraben einen Kranz von Gemüsegärten und Obstwiesen. Darüber hinaus trug natürlich auch der Schlosspark, der 1836 für den Fabrikanten Wintgens im Stil eines englischen Landschaftsparks angelegt und zusammen mit dem Schloss 1905 von der Stadt Moers erworben wurde, mit dazu bei, dass das Moerser Stadtbild um 1900 als eines der reizvollsten am Niederrhein galt.

Der Eindruck eines in sich geschlossenen Stadtdenkmals wurde auch dadurch unterstützt, dass die Innenstadt damals - so wie seit dem Mittelalter - nur über drei Brücken an den Standorten der ehemaligen Stadttore zu betreten war: über die Neutorbrücke (vor der Kreuzung Neustraße/Fieselstraße) am Kirchtor (Einmündung Rheinberger Straße in die Kirchstraße) und Steintor (Übergang Steinstraße zum Königlichen Hof). Die letztgenannten Entrees zur Stadt waren damals - im Gegensatz zu heute - als deutliche Übergänge über den Stadtgraben erkennbar.

Eine besonders malerische Stadtansicht zeigte sich am Übergang vom Neumarkt in die Steinstraße. Dort bildeten die evangelische Stadtkirche, das historische Rathaus und der „Mattorn“ (auch Meerturm oder Marktturm genannt) ein durchgehendes mittelalterliches Ensemble. Der Mattorn, das letzte verbliebene Stadttor, war mit seinem barocken Turmhelm aus oranischer Zeit das Wahrzeichen der Stadt für Generationen von Moerser Bürgerinnen und Bürger. Zusammen mit dem 1890 an das mittelalterliche Kirchenschiff angefügten, neogotischen Glockenturm war der Mattorn Teil eines romantischen Stadtbildes, das in unserer Region so kein zweites Mal zu finden war. Eine weitere städtebauliche Besonderheit von Moers bildete ein kleinteiliges Wohnquartier zwischen Haagstraße und Kastell, das durch die oranischen Festungsarbeiten diagonal durchschnitten worden war und aufgrund seiner dreieckigen Grundform von der Bevölkerung das „Bügeleisen“ genannt wurde.

Die zunehmende Bedeutung der Stadt als regionales Zentrum des 1857 neu eingerichteten Kreises Moers hatte im historisch gewachsenen Stadtkern nur geringe Spuren hinterlassen. Dies lag vor allem daran, dass die repräsentativen Neubauprojekte am Ende des 19. Jahrhunderts auf das bis dahin unbebaute Gelände der ehemaligen Kastellbefestigung zwischen Altstadt und Schloss beschränkt geblieben waren (u.a. katholische Stadtkirche (1871), Kreisständehaus/Landratsamt (1898)) bzw. außerhalb der Wallanlagen im Bereich Ostring/Uerdinger Straße verwirklicht wurden (Lehrerseminar/Adolfinum, kaiserliches Postamt, das alte Amtsgericht/später Polizeiamt, das erste Krankenhaus).

Obwohl 1909 eigens ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben wurde, ist das Vorhaben der Stadtverwaltung Teile des Schlossparks als Bauland zu erschließen, nicht realisiert worden. Der Stadtkern blieb also weitestgehend von großmaßstäblichen Neubaumaßnahmen verschont, lediglich einzelne Häuser wurden unter Berücksichtigung der alten Parzellierung um- bzw. neu gebaut. Der wirtschaftliche Aufschwung der Stadt ließ sich an den Jugendstilfassaden der Wohn- und Geschäftshäuser in der Steinstraße und am Altmarkt ablesen.

Mit dem Abteufen des Rheinpreußenschachtes IV in Hochstraß zwischen 1900 und 1904 erreichte der Steinkohlebergbau die Stadt und leitete damit ihre Industrialisierung ein, in deren Verlauf sich das soziale und wirtschaftliche Gefüge von Moers nachhaltig veränderte. Der Bergbau als Schrittmacher der wirtschaftlichen Entwicklung hatte auch konkrete Auswirkungen auf die räumliche Ausdehnung der Stadt. Die ersten Quartiere und städtischen Einrichtungen, die außerhalb der ehemaligen Wallanlage entstanden, wurden zwischen Kirchtor und „Königlicher Hof“ (benannt nach einem gleichnamigen Hotel an diesem Platz) errichtet, der sich in der Folgezeit zum Verkehrsknotenpunkt der Stadt entwickeln sollte. Dort traf die Steinstraße auf die Moers-Homberger-Aktienstraße (später Homberger Straße), die als direkte Verbindung zu den Rheinpreußenschächten in Hochstraß und Homberg zum Rückgrat der Stadterweiterung wurde.

Durch die Entwicklung der Montanindustrie in Moers und den umliegenden Gemeinden wurde der Bau eines Eisenbahnnetzes zur weiteren wirtschaftlichen Erschließung notwendig. 1882 eröffnete die Linie der „Crefelder Eisenbahn-Gesellschaft“, die für den Transport von Steinkohle aus dem Kreis Moers nach Krefeld wichtig war. 1903 ging die Teilstrecke zwischen Moers und Rheinhausen (seit 1896 Hüttenwerk der Fa. Krupp) in Betrieb, die 1904 mit der Strecke Duisburg - Moers - Kleve an das überregionale Schienennetz angeschlossen wurde. Zudem nahmen die Moerser Kreisbahnen (Moers-Sevelen, Moers-Rheinberg) und Straßenbahnen um 1910 ihren Betrieb auf. Der Moerser Hauptbahnhof entstand 1904 weit außerhalb des alten Stadtkerns an der Homberger Straße, die sich als Verlängerung der Steinstraße langsam zu einer Geschäftsstraße entwickelte, deren Häuser sich im eklektizistischen Stil des Historismus (Neorenaissance u.ä.) zeigten.

Mit der einsetzenden Industrialisierung stiegen auch die Bevölkerungszahlen der Stadt Moers kontinuierlich an, zudem vergrößerte sich im Jahr 1906 die Gesamtfläche des Stadtgebiets deutlich durch die Vereinigung mit den Gemeinden Hülsdonk, Hochstraß, Vinn, Asberg und Schwafheim. Im Gegensatz zu anderen Städten des Ruhrgebietes entstand in Moers trotz Bevölkerungszunahme allerdings kein rasterförmiges Stadterweiterungsgebiet mit einer für das späte 19. Jahrhundert typischen Blockrandbebauung im Stil des Historismus („Gründerzeitviertel“). Es gab zwar Planungen zur Anlage eines regelmäßigen Straßenrasters außerhalb des Stadtkerns, doch blieb die Form der geometrischen Stadterweiterung bereits im Ansatz stecken. Lediglich auf Teilstücken der Homberger und Uerdinger Straße setzte sich eine durchgehende Straßenrandbebauung durch, während die Grundstücke an den abzweigenden Straßen nur aufgelockert bebaut wurden bzw. als Gärten dienten.

Auf der Flurkarte von 1909 ist die eingeschlagene Richtung der Siedlungsentwicklung deutlich zu erkennen. Die landwirtschaftlich genutzten Flächen westlich des Stadtkerns waren damals noch von historischen Flurgrenzen geprägt als sich im Osten der Stadt schon ein ausgeprägtes Straßen- und Schienennetz entwickelt hatte. Da die Bautätigkeit hinter den Erwartungen zurückblieb, wurde das auf der Flurkarte projektierte rasterförmige Straßennetz entlang der Filder Straße nicht ausgeführt. Ein Grund für die insgesamt geringe Baudichte zwischen Stadtkern und Bahnhof könnte in der Errichtung der Meerbecker Rheinpreußen-Siedlung liegen, die den Bevölkerungsdruck abgefangen hatte. Die zwischen 1904 und 1914 für fast 10.000 Menschen auf freiem Feld hinter dem Bahndamm erbaute Kolonie entsprach mit ihrem eher starren Grundriss zwar nicht den Idealen der Gartenstadtbewegung, erhielt aber durch abwechslungsreiche Haustypen, große Gärten und die flächendeckende Anpflanzung von Alleebäumen eine ausgesprochen ländliche Siedlungsform, die es den angeworbenen Arbeitern gestattete, ihren gewohnten Lebensstil fortzuführen. Als eigenständiges Gemeinwesen mit Schulen, Kirchen und Konsumgenossenschaften existierte die Siedlung Meerbeck nahezu unabhängig von der Stadt, dessen historischer Kern sich durch die Anforderungen an eine moderne Industriestadt langsam aber sicher wandeln sollte.

Der Neumarkt ohne Mattorn

Während um 1900 rund um den Altmarkt bereits repräsentative Wohn- und Geschäftshäuser entstanden waren, wirkte der tiefer gelegene Neumarkt mit seiner Randbebauung aus niedrigen Altstadthäuschen noch wie ein Dorfanger und nicht wie der Mittelpunkt einer Kreisstadt. Durchgängig bebaut waren die Ost- und Westseiten des Platzes. An der Südseite stand hingegen nur eine kleine Häuserzeile vor der Kirche (siehe Seite  27) und der nördliche Rand des Neumarktes besaß gar keinen baulichen Abschluss. Hier befand sich im Anschluss der Stadtgraben mit der so genanten Steigerschen Insel, einem ehemaligen Ravelin der Stadtbefestigung, auf dem das romantisch gelegene Gartenhaus des Moerser Buchhändlers Steiger stand. Der Neumarkt selbst war eigentlich ein Nebenprodukt der oranischen Festungsarbeiten: Ursprünglich ein Rinnengewässer, das früher Alt- und Neustadt trennte, wurde das so genannte „Meer“ (vgl. Bettenkamper Meer, Repelener Meer) im Verlauf der Bauarbeiten von beiden Ufern aus verfüllt und das neu gewonnene Terrain ab 1663/64 zur Anlage eines Marktplatzes genutzt (siehe Seite 26). Auf diesem standen ein Ehrenmal anlässlich des Krieges 1870/71 sowie das 1902 durch Kaiser Wilhelm II. (zugleich Graf von Moers) eingeweihte Standbild des Preußenkönigs Friedrich I., unter dessen Regentschaft die Grafschaft Moers 1702 an Preußen gefallen war.

In der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts hielt die neue Zeit auch am Neumarkt Einzug und zwar direkt mit einem städtebaulichen Sündenfall, der für den Umgang mit identitätsstiftenden Bauwerken in Moers leider symptomatisch werden sollte und sich durch die weitere Geschichte der alten Grafenstadt zieht. Kurzsichtigen Geschäftsinteressen und scheinbar unabweisbaren verkehrstechnischen Ansprüchen wurde das bedeutendste Bauwerk am Neumarkt, der 600 jährige Mattorn geopfert, da er als „Nadelöhr“ zwischen Alt- und Neustadt dem Bau einer Straßenbahnlinie im Weg stand. Die Händler der Neustadt, die sich durch die Trennwirkung des Tores benachteiligt fühlten, befürworteten den 1905 von der Stadt beschlossenen Abriss während weite Teile der Altstadt-Bewohnerschaft den Turm erhalten wollten. Der drohende Abbruch des Moerser Wahrzeichens war allerdings nicht nur in der Bevölkerung umstritten, sondern wurde auch vom Provinzialkonservator und dem Regierungspräsidenten abgelehnt. Daher entstand der Plan, den Turm abzutragen und versetzt in Richtung Kirche wiederaufzubauen, was aber an den hohen Kosten scheiterte. Letztendlich wurde der Mattorn 1907 abgerissen und die Auflage zum Wiederaufbau 1912 vom Regierungspräsidenten zurückgezogen. Wo zuvor das Stadttor stand, fuhr 1914 die erste Straßenbahn, deren Betrieb allerdings 1952 schon wieder eingestellt wurde.

Der Kunsthistoriker Prof. Richard Klapheck, der sich wie viele andere Fachleute für den Erhalt des Mattorns eingesetzt hatte, schrieb 1912 in der Zeitschrift „Der Niederrhein“ mit Blick auf die städtebauliche Entwicklung von Moers einen Warnruf, in dem es hieß: „Wer das alte Straßenbild von Moers sah, glaubte in ein Dinkelsbühl, ein Rothenburg zu kommen, aber er lernte eine Ratzenburg in ihrer ganzen öden Aschermittwochsstimmung kennen.“

Über diese Ratzenburg, mit der Prof. Klapheck Moers verglich, hieß es in einem Vers von Gottfried Keller:

„Die Ratzenburg will Großstadt werden
Und schlägt die alten Linden um;
Die Türme macht sie gleich der Erden
Und streckt gerad, was traulich krumm.
Am Stadtbach wird ein Quai erbauet
Und einen Boulevard man schauet
Vom untern bis zum obern Tor

So ist gelungen jeder Plan,
Doch niemand sieht das Nest mehr an!“

Während mit dem prägenden Baubestand von Seiten der Stadt eher achtlos verfahren wurde, entdeckten bereits vor dem Ersten Weltkrieg auswärtige Künstler den Reiz der gewachsenen niederrheinschen Kleinstadt. Dazu gehörten der Münchener Maler Prof. Otto Ackermann-Paseg und der Düsseldorfer Künstler Gustav Olms, der mit seinen vielfach publizierten Federzeichnungen Alt-Moers und insbesondere dem Mattorn ein bleibendes Denkmal setzte. Bis weit in die 1920er Jahre hinein waren Postkarten von Olms und anderen Künstlern im Umlauf, die als Motiv den bereits seit vielen Jahren abgerissenen Mattorn als Fotografie oder Zeichnung zeigten und dessen Verlust die Moerser noch über Jahrzehnte beschäftigen sollte.

Doch nicht nur der Mattorn-Abbruch veränderte um 1905 das Gesicht des Neumarktes nachhaltig, sondern auch zwei Neubauprojekte, die in ihrer Gestalt und Höhe deutlich von der historischen Bebauung abwichen. Zum einen war dies die Apotheke „von der Trappen“ auf der Ostseite des Platzes und vor allem das Kaufhaus „Korthäuer“ an der Einmündung zur Neustraße, ein Gebäude das später von der Firma Braun übernommen wurde und die Keimzelle des heutigen Modehauses bildete.

„Die neue Zeit, ein neuer Geist, die alte Liebe darf nicht fehlen“

Der Neumarktwettbewerb 1914

Im Juli 1913 lobte die Stadt Moers einen städtebaulichen Wettbewerb zur Neugestaltung des Neumarktes aus, deren Ergebnisse 1914 zur Beurteilung vorlagen. Der Wettbewerb fällt in eine Zeit, in der versucht wurde, an heimatliche Bauweisen anzuknüpfen und diese schöpferisch weiter zu entwickeln. Die angestrebte Wiederbelebung niederrheinischer Backsteinbauweise, die der Provinzialkonservator und die rheinische Heimatschutzbewegung propagierten, zeigte sich in unserer Region vor allem bei den öffentlichen Gebäuden, die um 1910 errichtet wurden und als Vorbild für private Bauvorhaben dienen sollten. Als Beispiele seien hier das Amtsgericht Rheinberg (Baujahr 1914), das städtische Gymnasium Wesel (Baujahr 1912, heute Amtsgericht) und das Amtsgericht Moers (1913) genannt. So weisen das im Stil des niederländischen Barock gebaute Moerser Gerichtsgebäude und sein Verwandter aus Wesel mit ihren geschweiften Schildgiebeln frappierende Ähnlichkeiten auf.

Die Anstrengungen zur Wiederbelebung regionaler Backsteinarchitektur fanden ihren Höhepunkt auf der groß angelegten Deutschen Werkbund-Ausstellung 1914 in Köln, wo den Besuchern u. a. das „Neue niederrheinische Dorf“ vorgestellt wurde. Dazu waren massive Bauwerke wie Wohnhäuser, Gaststätten, Hofanlagen sowie eine Kirche komplett in Backstein errichtet worden - entworfen von namhaften Reformarchitekten wie Prof. Georg Metzendorf, Prof. August Biebricher aus Krefeld oder Regierungsbaumeister Ernst Stahl, dem Leiter der Rheinischen Bauberatungsstelle in Düsseldorf. Der im selben Jahr stattfindende Wettbewerb zum Moerser Neumarkt wurde deutlich von den Reformbestrebungen des Heimatschutzes und Werkbundes beeinflusst. Dies zeigte sich in der Aufgabenstellung, der Zusammensetzung des Preisgerichtes und nicht zuletzt bei den eingereichten Arbeiten.

Der Wettbewerb selbst war mit einem Preisgeld von insgesamt 6000 Reichsmark hoch dotiert und das Preisgericht mit anerkannten Städtebau- und Architekturfachleuten ihrer Zeit prominent besetzt. Neben den Vertretern der Stadt Moers fungierten als Preisrichter der Stadtbaurat von Dortmund, Friedrich Kullrich, der Kölner Beigeordnete und Stadtbaumeister Carl Rehorst sowie Prof. Metzendorf, der Schöpfer der Margarethenhöhe in Essen. Als Vertreter der Fachpreisrichter stand Dr.-Ing. Hermann Hecker bereit, ebenfalls Heimatschützer und Leiter der Bauberatungsstelle des Rheinischen Vereins zur Förderung des Arbeiterwohnungswesens. Die Jurymitglieder Rehorst und Metzendorf waren aufs engste mit der Werkbund-Ausstellung in Köln verbunden: Carl Rehorst, Mitbegründer des Bundes Heimatschutz und zugleich Vorstandsmitglied des Werkbundes war Gesamtplaner und geschäftsführender Vorsitzender der Kölner Ausstellung, auf der das „Neue Niederrheinische Dorf“ unter der künstlerischen Oberleitung von Prof. Georg Metzendorf erbaut worden war.

Die Aufgabenstellung zur Neugestaltung des Moerser Neumarktes war daher ganz im Sinne des Heimatschutzgedankens und des Werkbundes gehalten. Zielsetzung war, die vorhandene Bautradition aufzugreifen und zeitgenössisch weiterzuentwickeln. So wollte man den Fortschritt aktiv gestalten und anstehende Veränderungen nicht verhindern, sondern baukünstlerisch beeinflussen. Es war den Wettbewerb-Auslobern bei aller Liebe zur „uralten und schönen Grafenstadt Moers“ klar, dass mit der „Aufschließung des linksrheinischen Industriegebietes und der dadurch bedingten neuen Verkehrseinrichtungen (Straßenbahn, Straßendurchbrüche usw.) demnächst die alten und unzweckmäßigen Wohngebäude am Neumarkt größeren Neubauten (Wohn- und Geschäftshäusern) weichen müssen.“ Deshalb sollte „im Interesse einer harmonischen und städtebaukünstlerischen Wiederbebauung dieses Platzes ... auf Grund des Gesetzes vom 15. Juli 1907 ein Ortsstatut geschaffen ... [und diesem] ein einheitlicher Wiederbebauungsplan beigefügt werden.“ Unter Berücksichtigung des alten Stadtgrundrisses an der Ost- und Westseite sollten an der Nord- und Südseite des Platzes - nach den Prinzipien der Stadtbaukunst - Raumkanten durch geschlossene Gebäudegruppen geschaffen werden. Für den südlichen Rand des Platzes mussten zwei Entwurfsvarianten eingereicht werden, da die ev. Kirchengemeinde einer freigestellten Stadtkirche den Vorzug gab. Zu der gewünschten Architektur der 3-geschossigen Neubauten hieß es: „Bei der Gestaltung der Fassaden ist der Hauptwert auf die Schaffung eines ruhigen, harmonischen und geschlossenen Platzbildes in ganz einfacher und schlichter bodenständiger Bauweise zu legen. Als hauptsächliche Baustoffe kommen in Betracht: Verputz oder holländischer Klinker mit mäßiger Verwendung von Sandsteinen.“ 

Insgesamt waren 73 (!) Entwürfe eingegangen, die mit ihren klar gegliederten und rhythmisierten Bebauungsvorschlägen das auf Ordnung und Harmonie ausgerichtete Gesellschaftsbild der damaligen Zeit wiedergaben. Die von den Architekten selbst gewählten Mottos der Arbeiten, insbesondere bei denen, die es in die engere Wahl geschafft hatten, spiegelten ebenso den Zeitgeist wider: „Alt und neu“, „Harmonisch geschlossene Bilder“, „Der Grafenstadt, die Einheit“, „Denkmalpflege und Heimatschutz“, „Marktbild“, „Die neue Zeit, ein neuer Geist, die alte Liebe darf nicht fehlen“.

Im Hinblick auf die angestrebte einheitliche Platzbebauung musste keine Rücksicht auf den vorhandenen Bestand genommen werden mit Ausnahme der kurz zuvor neu gebauten Häuser „Von der Trappen“ und „Korthäuser“, was im Ausschreibungstext ausdrücklich bedauert wurde. Folgerichtig sahen die eingereichten Arbeiten keinen Erhalt der historischen Bausubstanz am Neumarkt vor, auch nicht bei den stadtgeschichtlich bedeutsamen Gebäude wie dem „Dreigiebelhaus“ an der Ecke Niederstraße, dem Peschkenhaus oder dem alten Rathaus am Beginn der Steinstraße. Es ging bei dem Wettbewerb nicht um einen konservierenden Denkmalschutz, sondern um das Einpassen neuer Bauformen in die Altstadtstruktur.

Bemerkenswert ist, dass obwohl der sieben Jahre zuvor abgebrochene Mattorn an keiner Stelle der Wettbewerbesunterlagen Erwähnung findet, er doch bei mehreren eingereichten Entwürfen, so auch beim zweiten Preisträger, als markantes Städtebaumotiv wieder auferstehen sollte. Am weitesten ging dabei die Arbeit des Stuttgarter Regierungsbaumeisters Schönnagel, der zusammen mit den rheinischen Architekten Brand und Stahl einen Entwurf im Stil der Wiederbelebung niederrheinischer Bauweisen ablieferte: Die geplanten Fassaden, die in einem Wechsel von Putz und Klinker ortstypische Baumaterialien aufgegriffen, sollten an stadtbildprägenden Ecken holländisch anmutende Schild- oder Treppengiebel erhalten. Zudem griffen die Entwurfsverfasser die alte Forderung des Provinzialkonservators von 1907 auf, den Mattorn neben der ev. Kirche wiederaufzubauen, was darauf zurück zuführen ist, dass der Denkmalpfleger und Heimatschützer Ernst Stahl zu dieser Zeit Assistent des Provinzialkonservators war.

So wie mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914 die Tore der Kölner Werkbund-Ausstellung vorzeitig geschlossen wurden und das dortige „Neue niederrheinische Dorf“ in den nächsten Jahren verfiel, so sind auch die Planungen für den Moerser Neumarkt Makulatur geworden. Nach vier Jahren Krieg wurde an die Ideen des Wettbewerbs nicht mehr angeknüpft und weder die vorgesehenen Gestaltungsvorgaben noch ein Plan für eine einheitliche Bebauung aufgestellt. Das Ergebnis war, dass sich der Neumarkt die nächsten Jahrzehnte nicht wesentlich weiterentwickelte und den geänderten Ansprüchen anpasste, bis die historische Randbebauung im Modernisierungsschub der 1970er Jahren vollkommen ausgelöscht wurde.

 

 

 

 

 

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